Nach der relativ entspannten Etappe gestern steht uns heute der härteste Abstieg der ganzen Tour bevor: 2073 Meter geht es in die Tiefe. Doch zuvor müssen wir noch über den steilen, zerklüfteten Bergkamm gelangen.
Nachdem wir ausgeschlafen haben, brechen wir um 12 Uhr auf. Wieder geht es durch malerische Landschaft, über blühende Wiesen, noch einmal vorbei an den Pferden die wir gestern schon gesehen hatten.
Einem türkis-blauen Bergsee, in dem sich die Schneeflecken spiegeln, entspringt ein kleiner Bach. Wir queren ihn auf einer kleinen Holzbrücke und gelangen schließlich direkt zum Steilanstieg auf den Bergkamm.
Wie eine Wand steht er vor uns und sieht, wie so oft, von unten betrachtet, unüberwindbar aus.
Aber bevor wir uns daran machen, ihn zu überwinden, steht noch etwas Wichtiges an: Schneeballschlacht!
Nach dem schneearmen Winter daheim, in Deutschland, erhielten wir so, Mitte Juli, die Gelegenheit, etwas Winterfeeling nachzuholen.
Dann geht es los:
steile, schmale Pfade steigen wir aufwärts, sehr zu Wibkes Leidwesen. Doch auch ich muss schlucken, als wir erschöpft auf der ersten Kuppe ankommen und feststellen müssen, dass der eigentliche Bergkamm noch vor uns liegt.
Wir machen die Pause, die wir uns versprochen haben, und frühstücken:
Wurst, Käse, Brot, Trockenfleisch und ein lauwarmer Tee wecken Lebensgeister. Gut gestärkt gehen wir den Rest des Anstieges an.
Den Pfad über den steilen Geröllhang, der von unten betrachtet noch unbegehbar aussah, lassen wir zu großen Teilen schnell hinter uns.
Die Aussicht ist Klasse!
Doch dann wird es immer steiler und steiler. Ich bin dankbar für meinen Wanderstab, doch langsam reicht auch der nicht mehr.
Immer wieder müssen wir uns mit den Händen irgendwo abstützen oder hochziehen. Dann erreichen wir ihn: Den letzten Felsen, der uns von der anderen Seite trennt.
Hinter uns fällt der Geröllhang steil ab, vor uns liegt ein Weg, der wohl jeden Steilwandkletterer beglückt hätte.
Wibkes absoluter Albtraum! Am liebsten würde sie umkehren, doch der Blick zurück ist noch schlimmer als der Blick nach vorne. Sie zwingt sich weiterzugehen, einen Fuß vor den anderen zu setzen,
nicht darüber nachzudenken, was passiert, wenn sie abrutscht. Die Minuten dehnen sich zu Ewigkeiten. Ich bin voller Respekt für diese Überwindungskraft!
Dann haben wir es geschafft! Auf der anderen Seite belohnen wir uns mit Schokolade und Trockenfleisch. Wibke strahlt. Nach dem vielen Adrenalin erfährt sie nun den Kick.
Der nachfolgende steile Abstieg kommt uns wie ein Witz vor, gegen das Klettern von eben. Fast wähnen wir uns schon in Zams, dem Talort, der unser heutiges Ziel ist.
Vergessen ist, dass der Aufstieg nur der erste Auftakt zu unserer heutigen Etappe war und noch über 11 Kilometer Strecke und 2000 Höhenmeter Abstieg auf uns zu kommen.
Der Abstieg zieht sich. Immer wieder denken wir, Zams müsste gleich hinter dem nächsten Felsvorsprung liegen. Und immer wieder müssen wir einsehen, dass wir falsch liegen.
Ich achte nicht mehr auf den Weg, das Laufen wird zum Automatismus. Mit fatalen Folgen: Ich knicke um. Ich sinke zu Boden. In meinem Kopf dreht sich alles. Wenn ich mich jetzt verletzt habe, würde ich eine halbe Tagesetappe bis ins Tal humpeln müssen. Schlimmer noch: mein ganzer Urlaub wäre im Eimer. Ich könnte mich in den Zug setzen und nach Hause fahren, denn über den Alpenhauptkamm mit angerissenem Band oder verstauchten Knöchel, das wäre unmöglich.
Schnell hole ich die Salbe hervor, die ich zum Glück griffbereit in der Außentasche meines Rucksacks verstaut habe. Anfänglich schmerzt das Auftragen und die damit verbundene Bewegung des Fußes noch, doch dann genieße ich nur noch, wie sich die Salbe angenehm kühl um das Fußgelenk legt. Den Wanderschuh schnüre ich nun strammer als zuvor. Wie eine Bandage stützt und entlastet er das Fußgelenk. Vorsichtig trete ich auf. Ich zucke zusammen. Ein paar Schritte später klingt der Schmerz jedoch langsam ab. Ganz verschwindet er aber nicht.
Es fängt an zu regnen. An diesem Punkt ist das Einzige, was mich am Laufen hält, die Aussicht auf Schokolade. Es mag lächerlich klingen, doch beim Wandern lernt man die kleinen Dinge zu schätzen. Was im Alltag jederzeit verfügbar ist, ist hier Luxus: Schokolade, trockene Kleidung, ein warmes Bett.
Nach dem letzten Schokoriegel war meine Moral drastisch gesunken. Mir knurrt der Magen. Der Proviant ist fast aufgebraucht.
Geschafft!
In Zams angekommen rennen wir los, in Richtung des Supermarktes, den wir bereits einige Zeit zuvor von einer Anhöhe aus erspäht haben. Unsere Euphorie ist jedoch nur von kurzer Dauer. Die Erkenntnis trifft uns wie ein Schlag ins Gesicht: Es ist Sonntag!
Frustriert schleppen wir uns zur nächsten Herberge. Diese ist, wie die meisten Unterkünfte in Zams, nicht ganz billig. Doch auf dem Zimmer angekommen, muss ich einsehen, dass dieses Hotel die Entschädigung für alles ist.
Ein Balkon, eine warme Dusche und ein Fernseher.
Ein Traum wird wahr!
Ich ziehe meine Schuhe aus. Das Fußgelenk ist nicht dick geworden. Der Schmerz würde also im Laufe des Abends ganz abschwellen. Pünktlich um neun machen wir den Fernseher an: Endspiel der Fußball-WM!
Weil anfänglich nicht viel passiert, dusche ich ausgiebig und warm. Erst jetzt fällt mir auf, wie sehr ich durch Regen und Wind ausgekühlt bin.
In der Halbzeitpause lasse ich mir den Weg zur nächsten Tankstelle beschreiben. Hier kaufe ich Saft, Kakao, Kuchen und Salzstangen. Euphorisch und wie ein Wahnsinniger lachend, laufe ich zurück
zum Hotel. Alle Sorgen des Tages sind vergessen.
Dass Deutschland an so einem Abend nur Weltmeister werden kann, ist nun klar.
Und so kommt es dann auch: 1:0!
Mit dem Gefühl der Unbesiegbarkeit und einem Lächeln im Gesicht schlafe ich ein, voller Vorfreude auf die morgige Etappe.
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Alpenüberquerung.
Übrigens: Wenn dir die Route zu abenteuerlich ist, gibt es seit diesem Jahr eine entspannte Alternative. Viel Spaß beim Wandern!
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